Ein bisschen vergessen ist diese Landschaft schon. Denn die meisten Touristen verirren sich lediglich in den Gassen von Comer See, Gardasee oder Lago Maggiore. Wohl dem, der oben in den Bergen wandert…
Die Jungen haben das Dorf längst verlassen, Nachwuchs ist nicht in Sicht. Doch jedes Jahr findet eine Soap-Opera statt. Es bleiben die Senioren von Cavargna, die ihr Leben zwischen Tradition und Moderne meistern. Läden gibt es nicht, denn sie lohnen sich nicht.
Die Post hat nur einmal die Woche geöffnet und Jeeps haben hier auch nur die wenigsten. Dennoch lieben die Dorfbewohner ihr Cavargna und das Leben dort. Vor allem beim jährlichen Höhepunkt, dem Fest für den Heiligen Lucio, wenn die Italiener ihre Dorf-Soap aufführen.
In den Fünfzigern prägten noch Steinhäuser aus Schiefer das Dorfbild Cavargnas und mehr als 800 Menschen lebten hier. Heute ist Cavargna ein Randgebiet der Lombardei, hart an der Grenze zum Tessin. 262 Menschen wurden bei der letzten Zählung ermittelt. Das war Ende 2007. Danach sind schon wieder zwei gestorben und umgezogen auf den Friedhof, den lebhaftesten, farbenfrohesten Platz von Cavargna.
Friedhof buntester Platz im Dorf
Die Vasen, dort auf dem Friedhof, sind mit bunten Plastikblumen gefüllt. Liebevoll gepflegt erscheinen die Parzellen rund um die Granitblöcke der Gräber. Auf dem letzten Ruheplatz. Die Bilder der Verstorbenen sind auf ihnen zu sehen. Ihre Verwandten kommen oft hierher. In Cavargna gab es im letzten Jahr keine Frau, die schwanger wurde. Mazza Fiorella, die im Rathaus das Register führt, hätte das längst bemerkt.
Über dem höchstgelegenen Dorf der Provinz Como thront der Pizzo di Gino, 2245 Meter hoch. Ihm entspringt der Bach Cuccio, der die Bewohner mit frischem Wasser versorgt. Früher wurde hier Strom generiert, der kommt heute aus der Leitung. Lange war das Tal von Cavargna wild und sich selbst überlassen. Die Außenwelt erreichten die Bewohner per Esel. Sie kamen mit sich allein zurecht.
Für Touristen sehen die Berge von Cavargna noch heute archaisch aus. In seinen Felswänden könnten Höhlenwohnungen verborgen sein. Darunter reihen sich die Nachbardörfer von Cavargna aneinander. In einer Höhe von 1000 Metern liegen sie, zwischen dem Luganer und dem Comer See, knapp unterhalb eines Gürtels aus Kiefern. Nur wenige Menschen besitzen einen Jeep. Ein paar fahren mit Kleinwagen, so billig wie möglich, um durch die engen und kurvigen Bergstraßen Italiens zu kommen.
Viel passiert nicht, in Cavargna. Ein alter Mann mit Stock und Hut schaut fast sehnsüchtig ins Tal hinab. Wo sie geblieben sind, die Kinder? Was waren das für Zeiten, als man noch autark lebte. Damals kamen Lehrer in den Ort, und wenn es im Winter zu stark schneite, mussten sie ein paar Wochen hier übernachten. Heute holt ein Schulbus die Kinder hinunter nach San Bartolomeo zur Grundschule, es sind zu wenige geworden.
Viermal am Tag kommt der Linienbus, eine Stunde dauert die Fahrt in die nächste Stadt, viele Passagiere transportiert er nicht. Die Bank macht jeden zweiten Tag für ein paar Stunden auf, die Post einmal pro Woche. Denn ihre Arbeit ist nach wenigen Stunden bereits getan. Kuriere beschweren sich, wenn sie wegen zwei Kisten Pasta die vielen Serpentinen nach Cavargna fahren müssen, weil es zu wenige Kunden gibt. Die Bar della Piazza wurde vor zwei Jahren geschlossen.
Wer kann, wandert ins benachbarte Tessin aus, um mehr Lohn fürs Handwerk zu bekommen. Früher war das nicht nötig, die Dorfgemeinschaft lebte autark und unterstützte sich gegenseitig. Schlosser, Schmied und Holzfäller waren genauso gefragt wie Kastanienbrotbäcker, andere konnten nähen oder Haare schneiden. Ein Erzbergwerk gab es auch, aber das war noch früher.
Der Herr Pfarrer fehlte natürlich auch nicht. Die Kirche mit ihrem großzügigen Gemeindehaus wirkt heute wie ein verlassenes Raumschiff. Rund dreißig Einwohner besuchen den Gottesdienst. Im Taufstein dümpelt verbrauchtes Weihwasser. Die Erinnerungen an frühere Zeiten bewahren sich die Bewohner in ihren Grabsteinen.
Für die Außenwelt gibt es im Dorfmuseum ein paar liebevoll bestückten Vitrinen. Lionello Bertossi, 65, hütet als letzter zugezogener Dorfbewohner das Museum. Ursprünglich kommt er aus dem schrillen Mailand. Seiner Frau zuliebe ist er vor zwei Jahren im Rentenalter auf den Berg gekommen.
Schmuggler oder Zöllner
Früher arbeitete Bertossi als Zollbeamter, ein paar Monate lang sogar in Cavargna. Er bewachte die Schweizer Grenze, sollte die Dorfbewohner am Schmuggeln von Reis, Kaffee und Lebensmitteln hindern. Er patroulierte am Zaun, in den seine Kollegen Glöckchen gehängt hatten, die Schmuggler verraten sollten.
In Uniform und mit Schießbüchse zog er los, wenn es klingelte. Doch immer nur ertappte er streunende Füchse. Die Schmuggler benutzten Zeitungspapier, um die Glöckchen zum Schweigen zu bringen. Wenn er doch einmal einen erwischte, sperrte Bertossi ihn nicht länger als zwei Tage ein. Und immer blieb das Gewehr auf seinem Rücken.
Ob Staatsdiener oder Schmuggler, das sei doch egal gewesen: „Wir waren arm, die waren auch arm“, sagt der Musemswärter. Schmuggel war das einzige Auskommen, das die Bewohner hatten. Und man kannte sich. Erst die Straße veränderte alles. Man konnte zu Wohlstand kommen, und wer konnte, ging weg. Über die Straße kam auch die technische Versuchung. Zuerst war das Fernsehen nur ein Nebel, ein schwaches schwarz-weißes Bild, das viel Strom von den wenigen Generatoren fraß.
Der Pfarrer besaß als erster ein Gerät, und wenn er fernsehen wollte, dann mussten die Menschen im Dorf für ein paar Stunden mit weniger Strom auskommen. Trotzdem legte der Herr Pfarrer Wert auf Tradition, auf die guten Sitten und Tugenden christlichen Glaubens. Immer wieder erinnerte er die Dorfbewohner daran, wie man sich selbst ernähren kann, ohne die Waren aus den Städten. Donna Franca und ihre Enkelin Die Augen von Donna Franca leuchten, wenn sie daran denkt, wie sie sich früher die Haare in Zeitungspapier wickelte, um dann mit einer heißen Schere ihre blonden Locken zu wickeln.
Heute muss sie einige Kilometer fahren, um sich die Haare machen zu lassen. Die 76-Jährige führt die einzige Pension im Ort, einen Stern hat die Herberge. Doch Gäste gibt es kaum. Eine Stunde vorher muss Bescheid geben, wer in Francas Restaurant essen möchte. Auf den Tisch kommt, was sie im Kühlschrank hat. Im Restaurant läuft der Fernseher. Die Tische sind leer, der kleine, rosa Stuhl und ein Bobbycar grzeugen von seltenem Kinderglück. Franca hätte gerne mehr Kinder in der Gemeinde. Doch im Dorf gibt es kaum noch Hochzeiten.
Die Liebe bleibt den Dorfkatzen, Hunden und Eidechsen überlassen, die sich am Brunnen sonnen. Nebenan, im Rathaus, steht Mazza Fiorella am Schalter. Sie ist verantwortlich dafür, dass die Bürokratie auch in diesem entlegenen Winkel der Lombardei funktioniert. Wenn das Büro nicht besetzt ist, kümmert sich Fiorella um ihre Theatergruppe.
Straße änderte alles
Ein Mal im Jahr spielen zwölf Bewohner diese Art Dorf-Soap. Ehekrisen und fremde Liebschaften sind in den Drehbüchern nicht vorgesehen. Das eigene Drama vor Augen, holt Fiorella mit ihren Stücken lieber die gute alte Zeit zurück. Ein neues Stück heißt: „Am Dorfbrunnen“. Dort begegnen sie sich und plaudern über dies und das, ganz so wie es früher war.
Einmal im Jahr ist es wirklich noch wie früher. Immer Mitte Juli kommen oben am Monti Marda 4000 Menschen zusammen, Einheimische und Freunde und Gäste aus der Umgebung. Das Fest ist dem Heiligen Lucio gewidmet, dem Schutzpatron der Viehhirten und der Almwirte. Er muss ein großzügiger Molker gewesen sein, der Heilige Lucio, ein Segen für die arme Bevölkerung. Auf das religiöse und kulinarische Volksfest freut sich Fiorella besonders. Auch Franca ist dann dabei, zusammen mit ihren Kindern.
Noch ein Stück oberhalb von Cavargna, dort, wo die Autostraße zu Ende ist, wohnen Mario Cassinelli, 60, und Rosetta Capra, 56. Abgeschieden durch hohes Gras und einen Zaun. Am Eingang hängt eine geladene Schrotflinte. Er will endlich den Fuchs erwischen, der gelegentlich seine Hühner reißt. In der Jagdsaison wandert er in den Bergen umher, um Wildschweine fürs jährliche Festessen zu jagen.
Nach Bellagio am Ufer des Comer Sees, wo Cassinelli ein Haus von seinen Eltern geerbt hat, fahren er und Capra nur im Winter, wenn es oben im alten Gemäuer trotz Kamin zu kalt wird. Doch zu Hause fühlen sich beide zwischen den kargen Bergen und den bunten Blumen. Ab und zu hilft Capra ihrem jungen Nachbarn oben auf der Alm. Sonst sammelt sie Gras für die Hühner, kämmt den Hund, trocknet Kräuter für Tee im Winter.
Cassinelli hackt Holz für den Kamin oder flickt das Dach, wenn er nicht seinem Hobby, dem Jagen, nachgeht. Seine Frau ist hier groß geworden, ging hier zur Schule. 36 Kinder waren sie damals, sagt Capra. Bei einem Rundgang durchs Dorf zwischen den grauen, nackten und leeren Häusern, rostigen und abgestumpft wirkenden Garagentoren, zwischen Backsteinbauten, offenen Baustellen und verstaubten Betonmischern sagt Museumswärter Bertossi plötzlich: „Du kannst hier nackt durchs Dorf laufen – und niemand sieht dich“.
Artikelbild: Jan Thomas Otte